Gastvortrag "Luther im Land des Papstes. Die Luther-Rezeption in Italien aus waldensischer Sicht."
Prof. Dr. Paolo Ricca, Facoltá Valdese di Teologia
22.06.2007 um 09:00 Uhr
"Es gibt kaum jemanden, der das Leben der protestantischen Minderheit Italiens, der Waldenser, eindrücklicher verkörperte als Paolo Ricca. Ihre Aufgabe erfüllen die Waldenser und mit ihnen die übrigen Protestanten in Italien seiner Auffassung nach nur dann, wenn sie in aller Schärfe das Wort Gottes auslegen und diesem Wort dienen. "Es muss doch auch möglich sein, christliche Gemeinde zu sein, ohne römisch-katholisch zu sein", bekräftigt er. So bietet die Bibel die Daseinsberechtigung der mehr als 800 Jahre alten Bewegung, die in ihrer Radikalität von Anfang an für Aufsehen gesorgt hatte. Der Professor für Kirchengeschichte an der römischen Facoltà Valdese di Teologia, der einzigen protestantischen Fakultät in Italien, weiß, daß die Berufung auf die Bibel nicht in die Enge des fundamentalistischen Bibelverständnisses führen darf. Die Bibel weite den Blick und sei ökumenischer als alle Kirchen. Entscheidend sei das Wort, nicht der Buchstabe. "Das Wort wurde Fleisch", zitiert er den Evangelisten Johannes und fügt hinzu, was das zu bedeuten hat, daß das Wort Geschichte wurde, daß Gott ein Gespräch mit der Welt begann. Und freilich sei es nicht damit getan, daß ein wenig an der Oberfläche gekratzt werde, sondern dieses Wort müsse schon herausgegraben werden, denn ohne die Berufung auf die Bibel bleibe die Kirche wie eine Muschel ohne Perle, sagt er mit einfachen Worten und wirkt dabei nicht wie ein asketischer reformierter Geistlicher, sondern wie einer, der das Leben kennt und auch seinen Genüssen nicht abgeneigt ist.
Ricca wurde am 19. Januar 1936 in Torre Pellice, dem traditionellen Ort der Waldenser, geboren. In der Schule wurde der einzige Protestant und Pfarrerssohn bestaunt. Aufgewachsen ist er in einer Zeit der harten Konfrontation zur katholischen Kirche, die bis zum zweiten Vatikanischen Konzil dauerte. Denn erst mit diesem Konzil sei die Gegenreformation beendet gewesen, sagt Ricca. 1962 wurde er als Pfarrer der Waldenser ordiniert und übernahm eine erste Gemeinde unweit von Rom. Nebenher betätigte er sich als Journalist und berichtete etwa über Tagungen des Reformierten Weltbundes. 1966 ging er als Pfarrer nach Turin, wo gerade die Arbeiter für ihre Rechte kämpften. Dort hat er verstanden, dass Gerechtigkeit nicht nur zu den Schlüsselbegriffen der Bibel zählt, sondern auch konkrete Folgen haben muß. Als Professor für Kirchengeschichte und Praktische Theologie kam Ricca 1976 nach Rom an die Waldenserfakultät, wo er mehrfach Dekan war. Inzwischen ist der Lehrstuhl geteilt, er ist weiterhin für Kirchengeschichte zuständig. Die Vielfalt des Katholizismus habe er erst in Rom kennen gelernt, berichtet Ricca, der viel zu klug ist, um in einer Frontstellung zu verharren, sondern die akademische Offenheit der Katholiken zu schätzen weiß. Der Reformierte, der sich für Luther begeistert, hat selbst dafür gesorgt, das Luthers Werke auch in der akademischen Welt der Katholiken zur Kenntnis genommen werden. In einem Verlagshaus der Waldenser ist daher 1993 die erste Übersetzung von Luthers grundlegendem Werk "De servo arbitrio" erschienen, die Edition von Luthers Römerbrief-Auslegung hat kurze Zeit später ein römischer Priester in einem katholischen Verlagshaus besorgt. Die Gegenreformation ist für Ricca am treffendsten auf dem Bildnis über dem Grab des Ignatius von Loyola in der römischen Chiesa del Ges'u dargestellt, wo das Buch als Grundlage der reformatorischen "Häresie" zerrissen wird. Aber das erfüllt ihn nicht mit Bitterkeit, läßt ihn nur mahnen, daß die bösen Geister wiederkommen, wenn man sie vergißt und nicht darüber spricht."
(FAZ, 22.8.1997)